Geschichte der ehemaligen „Thiepvalkaserne“ und des Wohnprojekts Schellingstraße
1. Eine Kaserne zwischen militärischer und ziviler Nutzung (1875-1980)
Tübingen war von 1875 bis 1992 eine Garnisonsstadt mit zeitweise bis zu drei Kasernen. Als erste wurde 1875 die Infanterie-Kaserne (ab 1938 „Thiepvalkaserne“) gebaut. Das Gebäude in der Schellingstraße 6 wurde im Jahr 1914 als Maschinengewehr-Kompaniegebäude für diese errichtet und später als Stabsgebäude genutzt.
Tübinger Soldaten nahmen Anfang des 20. Jahrhunderts an der Niederschlagung von Aufständen gegen das deutsche Kolonialregime in China, „Deutsch-Südwestafrika“ (heute Namibia) und „Deutsch-Ostafrika“ (heute Tansania, Ruanda und Burundi) teil. Im Ersten Weltkrieg waren Tübinger Reichswehreinheiten im Rahmen des 180. Infanterieregiments am Angriff auf Frankreich beteiligt, unter anderem bei den Kämpfen bei Thiepval. Während des Kriegs wurde die Infanterie-Kaserne als Lazarett und als Ausbildungsort für Reserveeinheiten genutzt. Der im Zuge der „Novemberrevolution“ gegründete Tübinger Garnisons-Soldatenrat hatte von November 1918 bis Dezember 1919 seinen Sitz auf dem Kasernengelände.
Ab Herbst 1919 wurde der überwiegende Teil der Gebäude zivil genutzt: Im Mannschaftsgebäude brachte die Stadtverwaltung wohnungssuchende Familien und im Lazarettgebäude das Finanzamt unter. Im ehemaligen Stabsgebäude war nun die sogenannte Polizeiwehr einquartiert, eine Sondereinheit zur Niederschlagung von Unruhen und Aufständen. 1920/21 wurden hier außerdem Studentenbataillone aufgestellt, die beispielsweise 1920 an der Niederschlagung von Arbeiter_innenaufständen im Ruhrgebiet beteiligt waren.
Im Zuge der nationalsozialistischen Aufrüstungspolitik übernahm die Reichswehr 1934 wieder die Kaserne, um erneut in ihr Soldaten auszubilden. 1938 benannte die inzwischen in Wehrmacht benannte Reichswehr die Infanteriekaserne in revanchistischer Absicht nach dem Schlachtort des Ersten Weltkriegs in „Thiepvalkaserne“ um. Die hier ausgebildeten Einheiten waren im Zweiten Weltkrieg an den Angriffskriegen auf Belgien, Frankreich und die Sowjetunion beteiligt. Sie gehörten der 25. Infanterie-Division an, deren Einheiten in der Sowjetunion mehrere antisemitische Erschießungsaktionen an Juden verantworteten und auf dem Rückzug eine „Taktik der verbrannten Erde“ anwandten. In den letzten drei Kriegsjahren wurde die Kaserne auch zur Unterbringung von Angehörigen der Marineärztlichen Akademie und anschließend als Wehrmachtlazarett genutzt.
Von 1945 bis 1947 diente die Kaserne als Unterkunft für ehemalige alliierte Kriegsgefangene, Zwangsarbeiter_innen und andere sogenannte „displaced persons“. Anschließend übernahmen die französischen Besatzungsstreitkräfte das Areal. Das ehemalige Stabsgebäude wurde lange Zeit als Ausbildungszentrum genutzt. 1978 gab die französische Armee diese Kaserne auf, die fortan leer stand.
2. Besetzung, Legalisierung, Normalisierung? (1980-1999)
Wegen der katastrophalen Wohnraumsituation Ende der 1970er Jahre und aus politischen Beweggründen wurde das leerstehende Stabsgebäude am 18. Juni 1980 besetzt. Ziel der Besetzer_innen, die unter dem Namen „Tübinger Stadtmusikanten“ auftraten, war ein gemischtes Wohnprojekt für Studierende, Arbeitslose, Schüler_innen, Lehrlinge etc. und die Einrichtung eines unabhängigen Kultur- und Stadtteilzentrums auf dem ehemaligen Kasernengelände.
Der damalige Eigentümer des gesamten Kasernengeländes – das Bundesvermögensamt – stellte das Stabsgebäude dem Studentenwerk A.d.ö.R. zur Verfügung. Das Studentenwerk wurde so zum Verhandlungspartner der Besetzer_innen. Man einigte sich nach zähem Ringen schließlich auf eine Studierendenquote von 75 Prozent der Bewohner_innen. Zudem sollten die beiden Hallen auf dem Gelände für Veranstaltungen genutzt werden. Allerdings stellte sich die Realität bald deutlich anders dar: Die Hallen wurden dem Technischen Hilfswerk und der Stadt Tübingen überlassen. Das Studentenwerk übernahm das gesamte Stabsgebäude, stellte 1982 noch zwei „Wohnbauten in Fertig-Leichtbauweise“ in den Garten und vermietete nun ausschließlich Einzelzimmer an Studierende. Damit sah es aus, als wäre die Schellingstraße ein „ganz normales Studentenwohnheim“ geworden.
3. Bedrohung, Auseinandersetzung und Hauskauf (1999-2004)
Nachdem aber im Jahr 1999 klar wurde, dass der Bund die Liegenschaft verkaufen wollte, mussten die 110 Bewohner_innen der drei Gebäude handeln. Unterschiedliche Strategien wurden diskutiert: Besetzung oder Kauf? Nach langen Diskussionen wurde entschieden, die drei Gebäude und das Grundstück nach dem Modell des Freiburger Miethäusersyndikats zu kaufen und es so auf Dauer dem Immobilienmarkt zu entziehen und zugleich basisdemokratisch selbst zu verwalten. Die politische Kampagne – unter anderem eine Demonstration mit über 600 Teilnehmer_innen am 12. November 2003 – und die zähen Verkaufsverhandlungen führten schließlich zum Ziel: Am 18. August 2004 wurde im Garten des Wohnprojekts der Kaufvertrag mit dem Bundesvermögensamt unterzeichnet und gemeinsam gefeiert.
4. Das Projekt Schellingstraße (seit 2004)
Im Rahmen einer großangelegten „Sommerbaustelle“ wurden 2005 die Gebäude des Wohnprojekts mit umfassenden Eigenleistungen und der Unterstützung zahlreicher Wandergesell_innen saniert.
Und so sieht die Schelling heute aus:
13 große Wohngemeinschaften (WG) mit jeweils von sechs bis zwölf Menschen regeln ihr Miteinanderleben autonom, entscheiden selbst über Neueinzüge, stehen für eine kommunikative Form des Wohnens. Und so wie die einzelnen WGs ihre Angelegenheiten selbst regeln, werden in der Häuser-Vollversammlung Anliegen und Themen, die alle betreffen, diskutiert und basisdemokratisch entschieden. Dieses Plenum kommt regelmäßig zusammen und ist das Herz des Wohnprojekts. Daneben kümmern sich spezifische Projektbereiche um Verwaltung, Sanierung, Öffentlichkeitsarbeit und Politik und Kultur im Wohnprojekt.
Das Leben in der Schelling wird von einer wöchentlich organisierten Hausbar und dem großen Innenhof als Orten der Kommunikation geprägt. In der Hausbar finden häufig auch Veranstaltungen und Informationsabende zu aktuellen politischen Fragen statt. Darüber hinaus bietet die Schelling den Infoladen, Treffpunkt und Anlaufstelle für linkspolitisch interessierte und engagierte Menschen, mit einer Ausleihbibliothek und großem Zeitschriftenarchiv. Zusätzlich wird das Angebot des Wohnprojekts durch Werkstätten, einen Proberaum für Bands, einen Umsonstladen, eine Food-Coop, Vorträge, Konzerte und größere und kleinere Feste bereichert.
Die Schelling war also immer mehr als ein „ganz normales Studentenwohnheim“. Sie ist ein Wohnprojekt, das auf ein solidarisches Miteinander und gegenseitige (Be-)Achtung setzt: Hier können Menschen verschiedener Generationen, unterschiedlicher Herkunft und mitunter gegensätzlicher Ansichten und Lebensperspektiven unter einem Dach leben: Schüler_innen, Studierende, Arbeiter_innen und Arbeitslose, Akademiker_innen und Freiberufler_innen, Handwerker_innen und Kopfwerker_innen, Lebenskünstler_innen und solche, die auf andere angewiesen sind. Unser Ziel ist ein buntes, gemischtes und dynamisches Leben in Gemeinschaft mit anderen ohne Rassismus, Sexismus, Homophobie und andere menschenverachtende Einstellungen.
Die Selbstverwaltung ermöglicht uns, diesem Ideal näherzukommen.
5. Lesetipp:
Möller, Matthias (Hrsg.): Still gestanden? Die Geschichte einer alten Kaserne, Herausgegeben im Auftrag des Fördervereins Kulturdenkmal Schellingstraße 6, Tübingen 2009.